Kurz vor 17 Uhr wird in Žilina in der Slowakei der Russische Schlafwagen Richtung Moskau an den R 609 angehängt. Eine Jugendgruppe wartet ebenfalls auf den Einstieg. Nach ersten Diskussionen wegen der Abteilsvergabe bekomme ich das 3er Abteil, in dem ich den unteren Platz gebucht habe, für mich alleine zugewiesen. Die Freude ist groß aber noch bin ich skeptisch wie lange dieser Zustand so bleibt.
In den Abteilen ist es extrem heiß, die Fenster können (wieder mal) nicht geöffnet werden. Ein Herr in Freizeitkleidung organisiert den Einstieg und kontrolliert auch die Fahrscheine. Noch ist mir nicht klar, ob er die Schülergruppe leitet oder der Provodnik (Schlafwagenschaffner) in diesem Zug ist. Jedenfalls ist er sehr bemüht und bittet mich die Abteiltüre zu schließen, da die Klimaanlage zu arbeiten beginnt.
Naja…Klimaanlage ist gut – es wurde aber gottseidank mit der Zeit etwas kühler. Ich denke wir haben die 27 Grad Standard-Raumtemperatur in Russischen Zügen erreicht. Im Winter wurde 2009 ordentlich eingeheizt, um diesen Wert zu erreichen. Anscheinend ist das die Idealtemperatur für Russen.
Als wir schon einige Zeit unterwegs sind gibt sich auch die Provodniza (Schlafwagenschaffnerin) in gewohnt resoluter Uniform zu erkennen. Sonderlichen Arbeitseifer legt sie aber nicht an den Tag, um alle Belange der Kundenzufriedenheit darf sich ihr Kollege in Zivil kümmern.
Endlich auf ein verträgliches Maß abgekühlt, wird es in Košice noch einmal ordentlich schweißtreibend. Ich bekomme zwei weitere Abteilskollegen.
Inhalt:
Schwergewichtige Probleme
Ein Tscheche und seine Begleiterin – sie ist aus der Ukraine – stehen mit riesigen Trolleys vor meiner Abteiltür. Schwitzend und schnaufend stehen sie da und begutachten das kleine Dreibett-Abteil und ihre Koffer. Wie sollen die hier rein passen und verstaut werden?
Aber es gibt noch ein weiteres – wesentlich gewichtigeres – Problem: Der Mann hatte bereits auf Grund seines Bauchumfangs Probleme beim Passieren des Gangs. Einen Zentimeter “mehr” rundum und er wäre nicht mehr bei der Zugtüre rein gekommen. Hilflos stehen sie da und gestikulieren aufgeregt vor der Provodniza. Diese läßt die beiden schnaufenden und schweißüberströmten Gestalten aber einfach mit einem Achselzucken stehen und verschwindet in ihrem Dienstabteil. Ist ja nicht ihr Problem.
Rein müssen sie ja trotzdem irgendwie
Hilflos stehen sie da, er kann sich kaum bewegen und sie ist zu schwach um die schweren Koffer zu verräumen. So beginne ich unser Abteil wie bei “Tetris” neu zu organisieren und zu schlichten, damit wir alle Platz haben. Fünf Minuten später ist alles verräumt und ich bin mit meinen Siebensachen vom unteren in das mittlere Bett umgezogen. Ich wollte dem Herrn das untere Bett überlassen, damit er eine Möglichkeit zu schlafen hat. An Kletterübungen ist bei ihm nicht zu denken.
Das oberste Bett – das von ihnen auch gebucht ist – überlasse ich ihnen trotzdem. Auch meine Sportlichkeit hat Grenzen. Keine Ahnung, wo die Leiter versteckt ist. Die beiden können sich aber bestimmt besser mit der Provodniza verständigen und dieses Problem lösen als ich.
Letzten Endes überlässt er das Bett seiner Reisebegleiterin und setzte sich auf den gepolsterten Sitz, der ebenfalls im Abteil ist. Das Schnaufen verstummt während der gesamten Fahrt nicht. Es bereitet mir ernsthaft Stress dabei zuzuhören.
Heiße Nächte an der Grenze
An Schlafen ist die nächsten Stunden ohnedies nicht zu denken. Ab Košice ist unser Schlafwagen an einen Regionalzug angehängt, der bei jeder “Milchkanne” stehen bleibt. Je näher wir zur Grenze kommen umso schlechter werden die Gleise. Um 22:27 Uhr erreichen wir den Slowakischen Grenzort Cierna nad Tisou. Dort wird unser Zug mit viel Krach zum zweiten Mal neu zusammengestellt. Nur noch als kurzer Zug mit drei Waggons fahren wir Richtung Slowakisch-Ukrainische Grenze.
Eisenbahn-Grenzübergänge Richtung ehemaligen Ostblock haben für mich immer etwas Gruseliges an sich. Kilometerlange Stacheldraht-Zäune und Lichter, die den gesamten Zug ableuchten. Während auf der Slowakischen Seite ein neuer Bereich zur Grenzabfertigung errichtet wurde, zeigt sich die Ukraine wie vor der Wende. Ein kurzer baumloser Bereich zwischen zwei Zäunen ist zu erkennen, dann ein aus Metall gebildeter Kyrillischer Schriftzug “Ukraina”.
Dobry dien Ukraina
Ein Meer an runden, Mücken umschwärmten Scheinwerfern mit kühlem, weißen Licht empfangen uns. Der Zug rollt mit etwas mehr als Schrittgeschwindigkeit auf den Bahnhof Chop zu und zieht lange Schatten. Endlose Minuten, dann wird es überraschend dunkel und der Zug nimmt auf den letzten Metern Fahrt auf. Die eigentliche Grenzkontrolle auf ukrainischer Seite beginnt erst am Bahnhof Chop. Eine auffällig hübsche Grenzbeamtin sammelt die Pässe ein – wir werden sie erst vier Stunden später wieder bekommen.
Ein Zollbeamter würdigt mich keines Blickes, dafür ist er aber am Reisegepäck meiner beiden Reisegefährten interessiert. Er will wissen, was in einem der schweren Koffer in der oberen Ablage ist. Ein hilfloser Blick der Frau – ich weiß Bescheid. Wir hieven den Koffer herunter, doch der Zöllner ist bereits weitergegangen. Obwohl ich weiß, dass er nicht mehr zurück kommt, bittet mich die Frau, ihn nicht zurück zu stellen. Zwei Stunden später ist sie dann doch froh, endlich das Bett benützen zu können.
Fahrgestell-Wechsel
Wenige Minuten später wird unser Waggon zum “Räderwechsel” bugsiert. Die Fahrgestelle werden von Normalspur auf die Russische Breitspur ausgetauscht. Während diese Prozedur in Brest an der Grenze zwischen Polen und Weißrussland in einer Halle erfolgt, erledigen die Arbeiter den Fahrgestell-Wechsel in Chop Tag und Nacht im Freien. Unsere beiden verbleibenden Waggons werden schnell bearbeitet, dann verschwinden die Arbeiter und wir stehen bis früh am Morgen außerhalb des Bahnhofs.
Zum Morgengrauen verlassen wir mit einer Reihe anderer Waggons, u.a. aus Budapest, als Zug D16SH den Grenzbahnhof. Eine halbe Stunde später, um 5:23 Uhr, steigen auch meine gewichtigen Reisegefährten im Bahnhof Mukatschewo aus. Ich bin überrascht, dass sie für diese relativ kurze Strecke einen Schlafwagen nutzten. Mit einer Tagesverbindung mit Umsteigen und ohne Fahrgestell-Wechsel hätten sie die Strecke Košice – Mukatschewo vermutlich in rund vier Stunden und nicht wie wir in neun Stunden geschafft.
Allein und doch nicht allein
Ich richte mich gerade wieder gemütlich in meinem unteren Bett ein, da klopft es an der Tür. Es ist der Schaffner in Zivil (siehe gestriger Eintrag), der mir erklärt, dass er nun im oberen Bett schlafen möchte. Mir soll’s Recht sein, hauptsache es kehrt endlich Ruhe ein. Schnell wird das 3-Bett-Abteil auf ein 2-Bett-Abteil umgebaut.
Ich bin allerdings überrascht, als dann die Schlafwagenschaffnerin an Stelle ihres männlichen Kollegen erscheint. Mit verschlafenem Blick schwingt sie sich im Nachthemd ins obere Bett – dann ist endlich Ruhe nach einer langen Nacht. Trotz merklich schlechterer Strecke wird ein paar Stunden geschlafen.
Fenster schauen
Kurz vor Lemberg (auch Lv’iv, Lwow, Lwiv) verlässt sie mein Abteil. Den restlichen Tag habe ich wieder mein eigenes Reich. Fenster schauen, Tagebuch schreiben, lesen, jausnen und schlafen bestimmen meinen Zug-Alltag. Beinahe hätte ich das dritte 16-Uhr-Blick-in-die-Welt-Foto versäumt, der Wecker hat mich aber gottseidank rechtzeitig geweckt. Heute ist ein Teil meines Schlafwagen-Abteils zu sehen – eben der erste Blick nach dem Wecken.
Aktueller Stand um 16 Uhr:
Ort: Ziemlich genau auf halben Weg zwischen Chmelnizkij und Vinnica.
Land: Ukraine
Wetter: sonnig und heiß, wolkenlos
Zeitverschiebung:
Zur Mitteleuropäischen Sommerzeit in Deutschland, Österreich und der Schweiz beträgt der Zeitunterschied + 1 Stunde. Steht in der Ukraine die Uhr auf 16 Uhr ist es in Mitteleuropa erst 15 Uhr.
Bald in Moskau
Ich vermute, dass ich auch weiterhin mein Abteil für mich allein haben werde. In der Nacht werde ich die Grenze zu Russland überqueren und um 9:56 Uhr Ortszeit dann Moskau erreichen.
Die kommende Nacht werde ich hier verbringen:
Im Schlafwagen Žilina – Moskau Kievskaja.
Erdal says
Sehr schön geschriebener Artikel. Das macht Lust auf eine Fahrt :-D
Mac_betH says
Moskau! Oh Mann, wie impulsant! Und freust du dich, die erste große Station auf deiner Reise, oder?
Gruß
Matthias
Andersreisender says
@Erdal: Willkommen an Bord beim virtuellen Mitreisen :-)
@Mattias: Jaaa…die erste große Station, Moskau, war wieder mal toll!